Tagebuch

Diary

Die Ahnentafel des Hauses Guo



Dezember 2001


HICA

Im Februar vergangenen Jahres kam eine schöne, anmutige Frau zu mir. Behutsam nahm sie aus ihrem Koffer ein in Samt gewickeltes Bündel und machte es auf - 12 alte chinesische Rollbilder! Als wir die Bilder aufhängten, hatten wir ein großartiges Panoramabild vor Augen. 

Die Bilder bestehen aus Papier, am Rand sind sie von blau-grauer Seide umsäumt und sie sind von klassischer Schönheit. Jedes Rollbild ist 175 cm hoch und 51 cm breit. Die 12 Bilder haben eine Gesamtbreite von 612 cm. Auf dem 1. und dem 12. Bild finden sich jeweils 50 Schriftvarianten des Zeichens »Langes Leben«. Auf dem Gesamtbild wird eine imposante Halle samt Garten dargestellt. Zu beiden Seiten des Gebäudes ragen zwei rote Fahnenstangen auf, an denen je eine Fahne hängt. Die großen Schriftzeichen auf den Fahnen bedeuten »General«. Zu beiden Seiten der Halle sind zudem Pavillons abgebildet. Viele zivile und militärische Beamte von hohem Rang befinden sich im Garten. Im Innern der Halle  hängen sechs rote Laternen, auf denen in chinesischen Schriftzeichen die Worte »Residenz Guo in Fen-Yang« zu lesen sind. 

Wir steigen im Bild die Treppe hoch, und befinden uns nun in der vorderen Halle vor einem roten Teppich. Links und rechts stehen neun Generäle und hohe Zivilbeamte ehrerbietig in Hofgewand und mit Hofmütze. In der Mitte der Halle findet sich ein roter Tisch auf dem ein Täfelchen liegt. Auf dem  Stuhl links neben dem Tisch sitzt ein alter Herr mit weißem Bart gekleidet in das rote Drachengewand. Rechts ist eine Dame mit goldener Mütze und rotem Phönixkleid zu erkennen. Am Papier lässt sich feststellen, dass dieses Bild aus der Zeit des Endes der Ming-Dynastie stammt. Der Raum, in dem das Bild hing, muss mind. 10 m breit gewesen sein. 

Bei der letzten Aufziehung des Bildes (vor ca. 180 Jahren, wie die Seide verrät) wurden die beschädigten Stellen weggeschnitten. Zur Vereinfachung der Aufbewahrung wurde das Bild in 12 schmäleren Teilbildern verarbeitet. Nach mehrmaliger Untersuchung des Kunstwerks wage ich zu schließen, dass es sich hier um den berühmten Verteidigungsminister der Tang-Dynastie - General Guo Zi-Yi handelt - ein Mann, der in seinem Leben (697781) die vier chinesischen Kategorien »Reichtum, Karriere, ein langes Leben und große Leistung« alle erreicht hat. Der Kaiser Xiao-Zong belehnte ihn mit dem Titel König von »Fenyang«. Unser Bild diente den Nachfahren des Geschlechts Guo beim Ahnenopfer. 

Wie ist aber dieser wertvolle Kunstgegenstand der Familie Guo nach Deutschland gekommen? Von 1898 bis 1914 besetzte Deutschland die Jiaozhou-Bucht der Provinz Shan-Dong. Vielleicht wurde das Kunstwerk von einem deutschen Missionar, einem Kaufmann oder einem Soldaten aus den Kriegswirren nach Europa gebracht. Ein altes Bild zu restaurieren, bedeutet zugleich eine Geschichte kennen zu lernen und ein Kunstwerk von Meisterhand zu fühlen. Politik und Wirtschaft verändern sich ständig, nur die Kultur ist unvergänglich. 


Die Restaurierung 

Der Zustand vor der Restaurierung wurde protokolliert. Danach fing ich mit den Vorbereitungsarbeiten an – ich suchte geeignetes, originalgetreues Papier und Seide aus, beides ebenfalls nach den Originaltönen eingefärbt. Nach diesen Vorbereitungen begann ich mit den eigentlichen Restaurierungsmaßnahmen: Waschen, reinigen, neutralisieren... 

Der Aufbau der Montage eines chinesischen Bildes umfasst mehrere Schichten. Das eigentliche bemalte Original stellt die oberste Schicht dar. Diese ist mit einer Papierschicht hinterklebt, die im Chinesischen »Lebenspapier« oder »Herz« heißt. Das Lebenspapier wiederum ist mit zwei weiteren Lagen Papier kaschiert, deren letztere die Rückwand des gesamten Bildes darstellt. Zum Restaurieren muss das Original von den zugefügten Papierschichten abgelöst werden. Dann werden Schäden am Original behoben. Danach werden ein neues Lebenspapier und die weiteren zwei Lagen Papier neu aufgebracht. Die regelmäßige Restaurierung und Neukaschierung chinesischer Rollbilder ist auch deshalb notwendig, da es sich bei dem Gesamtsystem des Kunstwerks um ein Verbundsystem handelt, das durch organische Klebstoffe zusammengehalten ist. Diese degradieren mit der Zeit und der Klebstoff muss etwa alle 100 Jahre erneuert werden. 

Mit Skalpell, Pinzette und dem Finger löste ich also vorsichtig die Papiere hinter dem Bild ab, und zwar Schicht um Schicht: Dabei erkannte ich, dass das Bild schon einmal restauriert worden war, denn beim Original waren von der Rückseite Fehlstellen ergänzt worden. Anschließend wurden Risse geschlossen und fehlende Stellen des Originals wieder ergänzt. Nach mehr als 20 Arbeitsgängen, Restaurierungs- und Montagearbeiten, erschienen die Bilder eins nach dem anderen in neuem Glanz. 

Als ich die Bilder ihrer Besitzerin zurückgab, strahlte die schöne Dame und sagte: »Vergessen Sie bitte nicht, mir die weitere Geschichte der Familie Guo zu erzählen.«

Anmerkung 

Bei einem Taiwanbesuch 2001 habe ich zufällig einen Nachkommen in der 75sten Generation von General Guo Zi-Yi getroffen - Ein 90jähriger Qigong-Altmeister, Herr Guo Xiao-Wu. 

Ich habe Herrn Guo von der Restaurierung erzählt und das Foto des Bildes gezeigt. Er war sehr bewegt und fragte mich: »In meiner Heimat hängte man früher jedes Jahr zum Geburtstag von General Guo und wichtigen Festtagen ein solches Bild beim Ahnenopfer in unserem Ahnentempel auf. Während der Kulturrevolution wurden alle diese Kulturgüter zerstört. Selbst unser Familienstammbuch wurde verbrannt. Ich habe 50 Jahre lang nach diesen Bildern gesucht. Das von Ihnen restaurierte Bild stammt  sicherlich aus unserer Familie.« 


General Guo Zi-Yi 

Der berühmte General der Tang-Dynastie, Guo aus Huazhou diente in seinem Leben vier Kaisern: Xuan-Zong, Xiao-Zong, Daizong und De-Zong. Zur Zeit des Kaisers Xuan-Zong brach die Rebellion aus: An Lushan unternahm einen Feldzug gegen Yang Guo-Zong (den Bruder der Kaiserkonkubine Yang Guifei) und eroberte die Hauptstadt Lo-Yang. Der Kaiser floh. Unterwegs gerieten Yang Guo-Zhong und Yang Guifen in Maweipo in die Gewalt mehrerer Generäle und wurden umgebracht. Das ist die bekannte »An Lushan-Meuterei«. Zur Zeit des Kaisers Xiao-Zong wurde er zum Minister für die Staatsverteidigung ernannt. Zu seiner Lebzeit wurde Guo mehrmals befördert und auch mehrmals seines Amtes durch Neid und Verleumdung im Kaiserhof enthoben. Immer, wenn das Land sich in Gefahr befand, erinnerte sich der Kaiser wieder an ihn. Und er kämpfte dann ohne Klage wieder für sein Vaterland. In den Geschichtsbüchern wird er als derjenige gelobt, der »den Kaisern treu dient, die Untertanen toleriert und die Mitmenschen aufrichtig behandelt«. 

Ein Eunuch namens Yu Chao’en beneidete Guo und versuchte mehrmals, gegen ihn zu intrigieren. Als Guo einmal ins Feld zog, ließ Yu Chao’en das Familiengrab von Guo heimlich ausrauben. Guo kehrte zurück und rächte sich nicht. Weinend sagte er: »Im Krieg konnte ich meine Soldaten nicht daran hindern, die Gräber anderer zu schänden. Nun ist das Grab meines Vaters geplündert worden und ich soll den Täter nicht bestrafen.«

Eine andere bekannte Anekdote in der Geschichte ist die Rettung des Dichters Li Bai (der chinesische Goethe) durch Guo. Li Bai hat einmal den Eunuch Gao Li-Shi vor dem Kaiser Xuan-Zong beleidigt: Betrunken ließ er Gao seine Stiefel ausziehen. Seitdem hegte Gao großen Hass gegen Li Bai. Er verleumdete Li Bai, in einem Gedicht die Kaiserkonkubine Yang Gui-Fei beleidigt zu haben. Li wurde verbannt und suchte Unterstützung bei König Li Lin. Als Li Lins Aufstand gegen den Kaiser niedergeschlagen wurde, musste Li Bai ins Gefängnis gehen. Es war Guo, der die Bürgschaft für Li Bai übernahm und Li Bai aus dem Gefängnis rettete. Dieses Ereignis wurde später von Li Bai in einem Gedicht festgehalten und die Freundschaft seitens Guo gepriesen. 

Weiterhin gibt es ein Theaterstück über die Familie Guo. Der dritte Sohn Guo Ai war mit der Prinzessin Sheng-Sing verheiratet. Eines Tages stritten die Eheleute. Guo Ai geriet in Wut: »Du nimmst deinen Kaiservater als Schutzherr. Mein Vater kann den Kaiser aber ignorieren.« Verärgert kam die Prinzessin ins Elternhaus zurück. Falls der Kaiser sich darüber ärgerte, konnte dies das ganze Geschlecht Guo ins Unglück stürzen. In Fesseln wurde Guo Ai von seinem Vater vor den Kaiser gebracht. Der Kaiser Daizong lächelte: »Das Gespräch war eines zwischen den Eheleuten. Wir brauchen es nicht ernst zu nehmen. Sicher kennen Sie das Sprichwort: ‚Nicht taub, nicht stumm kann man kein guter Schwiegervater sein’?« Der Kaiser schickte seine Tochter wieder zurück und Guo Ai bezog zu Hause eine Tracht Stockprügel.